Wer kennt das nicht: Du schaust am Sonntag Abend eine Folge bei Netflix, die dir verdächtig bekannt vorkommt. Die Minuten verstreichen, langsam dämmert dir die Handlung, bis endlich ein Aha-Erlebnis eintritt und du dich erinnerst.
Als Kind erinnerten wir uns problemlos an ein Gedicht, an etliche Telefonnummern oder an die Quadratzahlen von eins bis zwanzig. Mit den Jahren werden wir immer vergesslicher. Wir verlegen Brillen, vergessen Passwörter und fragen uns schließlich, ob wir nicht an Gedächtnisschwund leiden.
Du musst vergessen, um dich zu erinnern
Das klingt jetzt sehr widersprüchlich, doch laut Gedächtnisforschern ist das Vergessen ein integraler Bestandteil vom Erinnern. Nicht nur deine Erinnerungen, sondern auch das Vergessene bestimmen deine Entscheidungen und Pläne für die Zukunft.
Sehen, fühlen, schmecken oder riechen – täglich erwarten dich neue Herausforderungen, mit sich ständig wechselnden Sinneseindrücken. Dein Gehirn muss diese neuen Eindrücke verarbeiten und tatsächlich wieder vergessen, um neue Informationen aufzunehmen. Du lernst neue Fakten, vergisst aber gleichzeitig gelerntes Wissen, damit du umlernen und dich deinem Umfeld anpassen kannst. Vergessen hilft dir, zwischen unwichtigen und wichtigen Wissen zu unterscheiden, abstrakt und kreativ zu denken, Probleme zu lösen sowie Neues zu entdecken.
Vergessen ist keine Fehlleistung des Gehirns
Vergessen ist ein aktiver Prozess im Hippocampus, jener Gehirnregion, die daran beteiligt ist, Fakten und relevante Erinnerungen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis zu übertragen. Vergessen basiert auf den zellulären Mechanismus der Langzeitdepression (LTD) und findet an den gleichen Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen im Hippocampus und anderen Hirnregionen statt, die auch beim Erinnern neuer Fakten (Langzeitpotenzierung) beteiligt sind. (1)
Dabei funktioniert dein Gehirn wie eine Festplatte: Dein Gedächtnis schafft Platz, indem es nicht mehr benötigte Dateien überschreibt oder löscht. Wie ein programmierter Spamfilter schützt das Vergessen dein Gehirn vor einer Informationsflut und verhindert ein Überlappen ständig entstehender Eindrücke. Es hilft deinem Gehirn, Informationen schnell und präzise zu verarbeiten und sich auf das zu fokussieren, was für dich auch wirklich bedeutend ist. Bezogen auf das Netflix Beispiel bedeutet dies, dass du ohne diesen Filter alle Folgen überlappend, in nur einer Folge wahrnehmen würdest und die Handlung für dich gar kein Sinn mehr ergeben würde.
Dass diesem Spamfilter hin und wieder Fehler unterlaufen und du nicht immer das Wissen abrufen kannst, welches du in einem bestimmten Moment suchst, zeigt ein freudscher Versprecher. Bei diesem Lapsus Linguae offenbarst du nicht, wie größtenteils angenommen, geheime Wünsche, sondern greifst aufgrund einer Fehlleistung deines Gehirns auf unpassende Wörter zurück, die du mit dem ursprünglichen Begriff assoziierst.
Gelöscht oder nur nicht mehr zugänglich?
Für die Wissenschaft bleibt jedoch bis heute unklar, ob deine Erlebnisse definitiv gelöscht werden oder für dich einfach nicht mehr zugänglich sind. Unserer Meinung nach sind die meisten Inhalte aus dem Gedächtnis nicht gelöscht, sondern lediglich nicht mehr abrufbar. Dies bestätigen unsere Hypnocoaching Erfahrungen in Bezug auf vergessen geglaubte Inhalte. Unter Hypnose, in einem tiefen Tracezustand (Somnambulismus), konnte sich ein Hypnotisand beispielsweise an das Auto-Kennzeichen einer Fahrerflucht erinnern. Ein anderer Hypnotisand wusste plötzlich, wo er einen wertvollen Ring versteckt hatte. Er hatte ihn zuvor wochenlang gesucht. Umgekehrt kann Hypnose temporär Erinnerungen blockieren, weshalb es durchaus möglich ist, dass man in Hypnose den eigenen Namen vergisst.
Die Annahme, dass du nie wirklich vergisst, bestärken Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried. Laut ihren Ergebnissen bleiben strukturelle Nervenverbindungen, die durch das Erinnern geknüpft wurden, dauerhaft bestehen, was ein späteres Wiedererlernen deutlich erleichtert. So kann etwas, was du in der Kindheit gelernt und bereits vergessen hast, wie zum Beispiel Stricken oder Skifahren, auch Jahre später, auf natürliche Weise abgerufen werden. (2)
Quellen:
(1) M. Korte (2018): Gedächtnis: Warum wir vergessen. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/news/gedaechtnis-warum-wir-vergessen/1580324
(2) S. Hofer, T. Mrsic-Flogel, T. Bonhoeffer et al. (2009): Experience leaves a lasting structural trace in cortical circuits. Nature 457, 313–317. Online verfügbar unter https://doi.org/10.1038/nature07487
Bildnachweis: Adobe Stock.